Pfingsten auf dem Höherberg

Diese Aktion der Göttinger Pfadfinder ist besonders gut dokumentiert. Ergänzend zu unseren Zeitzeugenberichten werden im Archiv der Stadt Göttingen hierzu diverse Schriftstücke verwahrt. So ist es uns möglich, den Verlauf aus verschiedenen Blickwinkeln zu dokumentieren.




Anfang des Jahres – Planung und Einladung der befreundeten Stämme – 

Schild vor der Wallfahrtskapelle Schild vor der Wallfahrtskapelle

Der Stamm Göttingen plante eine interessante Aktion, zu der mehrere benachbarte Pfadfinderstämme eingeladen waren. An den Pfingsttagen, vom 9. bis 10. Juni, sollte ein großes gemeinsames Treffen auf dem kirchlichen Gelände der Wallfahrtskapelle Höherberg stattfinden.
Geplant war – ein Einkehrtag – also eine rein religiöse Handlung.

Eingeladen wurden die Stämme aus Duderstadt, Heiligenstadt. Außerdem hatten sie den Stamm Minden eingeladen. (Der dortige Stammesführer – Karl Seehause – war auch den Göttingern gut bekannt, war er doch der Landesfeldmeister der Diözese Paderborn).

Da jedoch alle eingeladenen Stämme abgesagt hatten, ließen sie sich aber nicht entmutigen und planten nun für sich alleine.




Wie konnte die Veranstaltung verraten worden sein?

Es ist eigentlich nicht zu erklären, wie die Stapo Dortmund auf diese Aktion aufmerksam geworden ist. Durch einen glücklichen Zufall fanden wir in der Chronik des Diözesanverbandes Paderborn weitere Hinweise, die uns eine Erklärung möglich macht:

… der Stamm Minden führte über die Ostertage 1935 ein Zeltlager durch. Diese Veranstaltung wurde von der dortigen Polizei aufgelöst. Der Landesfeldmeister und zugleich Stammesführer von Minden war Karl Seehause. Für ihn folgten danach mehrere Durchsuchungen und Vernehmungen. Er wurde später vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 200,- RM verurteilt.

Da ja die Einladung zur Teilnahme an dem Treffen auf dem Höherberg schriftlich an Karl Seehause von den Göttinger Pfadfindern ergangen war, ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Gestapo von dieser Einladung Kenntnis erlangt hatte.
Die so gewonnen Informationen wurden dann von der Gestapo Dortmund an die Dienststelle in Hannover schriftlich weitergeleitet (siehe dazu Schriftstück im letzten Abschnitt).

Hieraus erklärt sich außerdem auch die Nichtteilnahme des Stammes Minden an dem Treffen zu Pfingsten.

Ob die Pfadfinderstämme aus Göttingen, Duderstadt und Heiligenstadt davon im Vorhinein Kenntnis hatten?


Landkarte Landkarte


Pfingstsamstag ging es dann los

Da sie die umfangreichen Einschränkungen und Verbote zu öffentlichen Auftritten kannten, wollten sie diese auch einhalte. Man wollte ja die Veranstaltung nicht gefährden noch provozierend auftreten.
So wurden die ca. 40 teilnehmenden Jungen in kleine Gruppen (Sippen) aufgeteilt. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten starteten sie von Göttingen aus. Teils wanderten die Gruppen, andere wieder waren mit dem Fahrrad unterwegs.




Natürlich wurde auf die Kluft sowie auf Wimpel und Banner verzichtet. Allerdings trugen viele die „geheime Kluft“, weiße Hemden und dunkle Hosen, aber das war ja unverfänglich. Sie hatten kein Zeltlager vor und so hielt sich auch der Materialaufwand in Grenzen.



Nach Bewältigung der gut 25 km langen Wegstrecke trafen nach und nach alle Teilnehmer auf dem Höherberg ein.

Pfarrhäuschen auf dem Höherberg Pfarrhäuschen auf dem Höherberg




Auf dem Gelände stand wenige Meter entfernt von der Kapelle ein Priesterhaus. Dieses wurde oft auch Pfarrhäuschen genannt. Das kleine einstöckige Gebäude wurde nur bei den Wallfahrten genutzt. Insgesamt war es sehr einfach eingerichtet, besaß aber einen kleinen Ofen. Die Benutzung wurde den Pfadfindern vom Pfarrer aus Wollbrandshausen gestattet. Somit waren sie in einem kirchlichen Gebäude, wie übrigens auf dem ganzen Gelände, zu Gast.

Sie konnten dort kochen und es auch zum Schlafen nutzen.

Es folgte eine spannende Nacht, aber so eine richtige Nachtruhe wollte sich nicht einstellen.

(Das Pfarrhäuschen wurde dann später, im Dezember 1974, abgebrochen und ein neuer Zweckbau als Ersatz erstellt.)




Pfarrkirche St. Georg zu Wollbrandshausen mit Pfadfinderschutzpatron über dem Portal St. Georgsplastik (Pfadfinderschutzpatron) an der Pfarrkirche St. Georg zu Wollbrandshausen







Pfingstsonntag

Jetzt mussten alle früh aufstehen, denn der Weg nach Wollbrandshausen lag vor ihnen. Bernhard, damals Wölfling erinnerte sich viele Jahre später: „So einen schönen Sonnenaufgang hatte er noch nie erlebt.“ Ja, vom Höherberg hat man bei gutem Wetter eine tolle Rundumsicht.
Die Pfadfinder hatten das Festhochamt in der Pfarrkirche St. Georg zu Wollbrandshausen besucht und mitgestaltet.

Nach dem Gottesdienst zogen sie wieder die 2 km zurück zum Höherberg.








Das jähe Ende des Treffens nahte.

Stammesführer Hilmar Renner erinnerte sich später:

… Nach unserer Rückkehr auf den Höherberg empfing uns der Gendarm Krentel aus Gieboldehausen hoch zu Ross mit einem donnernden „Heil Hitler!“
Eine heftige und verhängnisvolle Diskussion über Recht und Unrecht brachte den fanatischen Verfechter einer allmächtigen Staatsgewalt in eine ohnmächtige, blinde Wut: Er schüttete das Mittagessen, das von unseren Köchen liebevoll zubereitet worden war, auf den Rasen und gab in seiner Befehlsgewalt das Kommando zur sofortigen Abreise. Unser Abschiedsgruß lautete:
„Gott befohlen! Lass uns lieber Gott, dir deinem Schutz anbefohlen sein.
Wir befehlen unseren Geist in deine Hände. Amen.“

Traurig und voller Unverständnis über das jähe Ende des Treffens, das bis dahin allen Jungen so viel Freude bereitet hatte, machten sie sich auf den Heimweg nach Göttingen. Unterwegs gab es viel zu besprechen.




Robert Robert

Fahrtenbericht

Robert war als 15-jähriger Pfadfinder auf dem Höherberg mit dabei. Seine Erlebnisse hatte er 1935 in einem Fahrtenbericht in Versen aufgeschrieben.

Nicht alles hat er so formuliert, wie es ihm sicherlich auf der Seele brannte. Einige Jahre später wurde auch bei ihm eine Hausdurchsuchung durch die Gestapo durchgeführt.
Deshalb wurden zum besseren Verständnis an einigen Stellen farbig markierte Erläuterungen angefügt.

Originalfassung   Erläuterungen

Wir sind hier keine Stubenhocker
und wenn es heißt „Lager“, so lassen wir nicht locker.

Wohin, woher, wird noch nicht besprochen,
damit unsere Freunde nicht kommen angekrochen
und uns den schönen Spaß verderben,
vielleicht auch eine Wuppe erben.

So ging alles ganz famos,
am Sonnabendmittag zogen die Ersten los.
Ihnen folgten die anderen bis gegen vier
und am Abend, ja, da kamen wir.

Es war das Maß voll und der Ofen aus,
der Gaufeldmeister schmiss den Ersten schon hinaus.
Das hatte er sehr gut getan,
denn nun fing alles mit Schlafen an.

In der Küche hausten die Wächter
und machten manchmal ein laut Gelächter.
Langeweile hatten sie bekommen
und haben um 3 Uhr den Fußball hergenommen.
So haben sie sich die Zeit vertrieben,
viele von den Erwachten waren nicht liegen geblieben.
Man hatte schon bis fünfzehn gezählt,
danach die Mannschaft schnell gewählt.
Die blaue Partei, die wird es machen,
denn die Kerle schießen wunderbare Sachen.
Das Endergebnis lautete sieben zu drei,
und nun war das Spiel vorbei.

Allmählich waren alle aufgewacht,
jetzt wurde etwas anderes gemacht.
Antreten! In Turnschuh und Hos',
schnell Hugo, komm schnall mir mal den Riemen los!
Nun begannen die Turnübungen
mit hin und wieder Abwechslungen.

Um sieben Uhr war Kirchgang vorgesehen,
alle mit Handtuch und Seife sich versehen.
Herrlich strahlte der Sonnenschein,
als wir zogen in das Dorf hinein.
Beim Pfarrhaus wurde Halt gemacht,
Seife und Wasser an die Glieder gebracht.

Darauf ging es in die Kirche hinein,
wo einige schliefen uns halb ein.
Das war die Rache für den Krach,
den sie gestern Abend hatten gemacht.
Als nun war die Kirche aus,
zogen wir zu unserem Haus.

Der Kaffe hatte schon längst gezogen,
es dauerte nicht lange, da war er auch ausgesogen.
Und unser Koch, wie eine Mamselle,
klapperte fleißig mit der Kelle.
Mittagsduft durchzog das Haus,
ha, was gab es für einen festlichen Schmaus.

Als wir alle am Tische saßen
und unsere köstliche Suppe aßen,
wurden wir plötzlich von jemand gestört,
was sich beim Essen ja nicht gehört.
Hoch zu Roß war er gekommen
Buch und Bleistift hatte er mitgenommen.
Der Kerl sah ganz gediegen aus
und war ganz bestimmt kein altes Haus.

„Wo ist der Führer?“, so fing er an,
„damit ich ihn mal sprechen kann.
Derweil könnt ihr euch fertigmachen.“
Was waren das für Sachen?

Der Gaufeldmeister zog mit dem Pickel los,
was machen wir jetzt bloß?
Wir blieben alle noch ganz heiter
und aßen in Ruhe unser Essen weiter.
Als nun Schluß war mit dem schönen Fraß,
machten Spiel und Unterhaltung viel Spaß.

Schnell sahen wir Gerhard den Höherberg heraufeilen,
der uns etwas Wichtiges hatte mitzuteilen.
„Den Gaufeldmeister mit dem Landjäger hab ich gesehen,
Hilmar gab mir so hintenrum zu verstehen,
das alle Instrumente, Sportgeräte und Fahrtenmesser verschwinden,
damit der Landjäger nicht eines von diesen Sachen kann finden.“

Schnell waren die Fahrtenmesser eingesammelt
und ins Feld gerammelt.

Die Instrumente und Sportgerät waren auf dem Dach nicht mehr zu sehen,
das unsere Verstecker helle Köpfe waren, war wohl zu verstehen.

Auf einmal war der Grünrock wieder oben,
das konnten wir bestimmt nicht loben.

Alles war zum Glück verschwunden,
wenn er nachgesehen, hätte er nichts mehr von unserem Gerät gefunden.

Wütend war er jetzt gewesen,
weil wir das Papier nicht aufgelesen.

„Macht, daß ihr eures Weges zieht,
damit man euch hier nicht wiedersieht.“

Was soll denn dieses nun bedeuten?
wo unsere Kleinen sich so drauf freuten.
Sollt nun alles jetzt vorbei sein
durch so ein dummes …?

So mussten wir einzeln unseres Weges gehen,
unsere Rucksäcke und Affen ließen wir oben stehn.

Wie die Rohrspatzen schimpften unsere Kleinen,
doch keiner von ihnen fing an zu weinen.
Schäumend zogen sie auf dem Wege
nach dem Dorf auf schmalem Stege.

Alle marschierten stramm nach Haus,
und unser Lager, das war aus.

Dieses soll nun kommen auf hundertfünfzig Mark
das schad`t ja nichts, denn das macht uns erst recht noch stark.

Wenn wir kriegen drei Wochen Kasten,
lassen wir unsere Arbeit lange noch nicht rasten.

Es fällt vielleicht noch ein bißchen schwer,
die Verse, die schrieb RR.
 



Man wurde ja von den
„Freunden“ (der Gestapo)
beobachtet!


Pfingstsonnabend
von Göttingen zum Höherberg
bewusst in kleinen Gruppen,
zu unterschiedlichen Zeiten






Die Pfadfinder wohnten in
einem heute auf dem Gelände
nicht mehr vorhandenem
Nebengebäude der
Wallfahrtskapelle








Pfingstsonntag






waschen im Pfarrhaus
in Wollbrandshausen,
1,8 km entfernt




Pfarrkirche St. Georg in
Wollbrandshausen



auf dem Höherberg












der Gendarm
aus Gieboldehausen


















Stammesführer Hilmar Renner



Fahrtenmesser waren verboten
nur HJ durfte sie tragen













Das Lager war aufgelöst!





… Schwein












glücklicherweise wurden
keinerlei Strafen verhängt





Ein Nachspiel wurde unvermeidlich …

„In den folgenden Tagen wurden Teilnehmer des Geschehens auf dem Höherberg von der Gestapo, Menschen mit widerlichem Getue und brutalem Benehmen, langen Verhören unterzogen.“

(Hilmar Renner)


Trotz aller Bemühungen der Gestapo konnte den Pfadfindern und hier besonders dem Stammesführer Hilmar Renner und dem Kuraten Kaplan Laufköter letztlich kein Fehlverhalten nachgewiesen werden.
Glücklicherweise kam es somit zu keiner Verhängung von Strafen.
(Siehe dazu auch im folgenden Abschnitt die Schriftstücke aus dem Stadtarchiv)




Kopien aus dem Göttinger Stadtarchiv

Die folgenden 8 Schriftstücke der verschiedenen Behörden mit ihren Berichten geben einen guten, wenn auch teilweise inhaltlich unterschiedlich bewerteten Einblick über die „Pfingstaktion 1935“. Sie ergänzen unsere vorausgegangenen Berichte in der Chronik aus einer anderen Sicht.

Quelle: Stadt Archiv Göttingen, Polizeidirektion F.157. Nr. 2